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Ritueller Diebstahl

02. Mai 2018 | Von: Stefan Brönnle | Kategorien: Mythen, Symbole, Brauchtum, Rituale | 0 Kommentare

Eine Hand vor schwarzem Hintergrund greift nach einem Räucherfächer aus Federn

Mit zu den eher schwer zu verstehenden rituellen Gesetzmäßigkeiten und Bräuchen gehört der rituelle Diebstahl. Schwierig vor allem deshalb zu verstehen, weil der Diebstahl ja grundsätzlich als ethisch problematisch verstanden wird. Insbesondere in einer christlichen Kultur, die klar in gut und böse teilt und in der wenig Platz für Grauzonen ist, scheint ein im weitesten Sinne spirituell-ritueller Akt, der eben nicht eindeutig in das dualistische Verständnis hineinpasst, schwer zu fassen zu sein. Dabei stand auch in der Bibel ganz zu Beginn der Menschwerdung ein ebensolcher ritueller Diebstahl: „Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze." (1. Mose 3, 6-7). Der rituelle Diebstahl der verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis, lässt das Bewusstsein aufflammen. Erst durch die Diebstahl wird der Mensch zum Menschen, erst durch ihn erkennt er gut und böse. Formal gesehen waren Adam und Eva zuvor nicht strafbar, weil sie kein Verständnis von den Folgen der Tat hatten.

Interessanterweise taucht der rituelle Diebstahl in den Mythen oft im Kontext der Kulturbringer auf:
Da Zeus nicht will, dass die Menschen sich entwickeln und aufstreben, enthält er den Menschen das Feuer vor. Der dem Titanengeschlecht entstammende Prometheus stiehlt darum das Feuer aus dem Olymp, um es den Menschen zu überreichen. Auch hier ist die Menschwerdung mit einem Diebstahl verknüpft.
Der Halbgott Herakles muss, um zum Gott aufsteigen zu können (seine spirituelle Ganzwerdung zu vollenden), 12 Aufgaben bewältigen. In einer dieser Aufgaben muss Herakles – sehr ähnlich wie Adam und Eva – die goldenen Äpfel im Garten der Hesperiden stehlen, die vom Drachen Ladon bewacht werden. Diese Äpfel hatte Gaia als Geschenk für das Götterpaar Zeus und Hera wachsen lassen. Auch hier ist der Diebstahl eindeutig rituell, denn er steht symbolisch für die Gottwerdung des Menschen.

Solche Mythen sind weltweit anzutreffen: Im Schöpfungsmythos des Yolngu-Volkes (Australien) stehlen die Söhne der Erstgötter Bildiwuwiju und Muralaidj die heiligen Symbole, die heiligen Lieder und Zeremonien, auf welche Art diese dann letztlich zu den Menschen gelangen. Ihnen wird jedoch der Frevel vergeben, da die Gotteskinder ihrer Mutter nicht die Gebärmutter gestohlen hatten und „dieses sichtbare Zeichen der Macht der Frauen würden wirkliche Männer niemals stehlen".

In der älteren Edda wird der Diebstahl von Thors Hammer durch den Riesen Thrym erzählt. Obwohl Thor und sein Bruder Loki wissen, wer den Hammer hat, wird er nicht einfach zurückgefordert. Der Hammer muss durch eine List zurückgestohlen werden, um wieder in den rechtmäßigen Besitz Thors zu gelangen. Beide verkleiden sich als Braut und Brautjungfer und gelangen so unerkannt ins Reich der Riesen. Sie essen mit den Riesen, bis der „Braut" der Hammer als Zeichen der Segnung in den Schoß gelegt wird. Erst jetzt besitzt ihn Thor wieder rechtmäßig – siehe unten die „Schenkung" - und er kann den Riesen damit erschlagen.

Auch die sumerische Inanna stiehlt die Weisheitstafeln ME (= Mutterweisheit, Magie, Heilkraft, religiöse Inspiration) zusammen mit dem Himmelsboot und den Mond von Enki, indem sie ihn trunken macht, und bringt das ME nach Uruk. Durch den Diebstahl hat Inanna die göttlichen Gaben rituell-legal an sich gebracht und so gibt Enki auch klein bei: „Im Namen meiner Macht und im Namen meines Tempels verkünde ich, dass die Weisheitstafeln der ME von nun an in deiner Stadt Uruk bleiben mögen. Sollen die Menschen in Uruk gedeihen und die Kinder Uruks sich erfreuen."

Wir erkennen, dass die wesentlichen Kulturimpulse sehr häufig durch den rituellen Diebstahl an die Menschen übergingen. Die Diebe sind meist göttliche oder halbgöttliche Trickster-Gestalten. Wenn wir genau hinsehen, sehen wir, dass der Diebstahl nicht im Sinne eines Raubs mit Gewalt geschieht, sondern durch List. Der Trickster ist der Gauner oder Betrüger, im Deutschen oft als „göttlicher Schelm" übersetzt. Er fungiert dabei als Kulturheros. Der Psychologe C.G.Jung ("Zur Psychologie der Tricksterfigur") bezeichnete die Gestalt des Tricksters als "ein getreues Abbild eines noch in jeder Hinsicht undifferenzierten Bewusstseins, welches einer der tierischen Ebene noch kaum entwachsenen Psyche entspricht"; er stelle somit eine "kollektive Schattenfigur" dar. Paradoxerweise ähnlich dem naiven "Dummling" im Märchen oft zum Heil führend, "sei er mythologisch gesehen auch ein Vorläufer des Heilbringers".
Der Trickster handelt also quasi mythologisch in einer Zeit, bevor die Ordnung und die Gesetze geschaffen wurden. „Der Trickster ist ein "kosmisches" Urwesen göttlich-tierischer Natur, dem Menschen einerseits überlegen vermöge seiner übermenschlichen Eigenschaften, andererseits unterlegen vermöge seiner Unvernunft und Unbewusstheit" (C.G.Jung).

Dieser mythologische Urdiebstahl ist nun in verschiedenen Ritualen häufig anzutreffen: In der Freinacht sind solche rituellen Diebstähle in Bayern toleriert. In der Regel ist die Freinacht die Walpurgisnacht, die Nacht auf den 1. Mai. Aber auch andere Nächte, können als solche rituellen Freiräume gelten. In Fürstenfeldbruck bei München galten die Nächte auf den 1. April, vom Karsamstag auf den Ostersonntag, auf Georgi (23. April) sowie vom Pfingstsamstag auf Pfingstsonntag als Freinächte, in denen ritueller Diebstahl toleriert war. Das bekannteste Brauchtum ist der Diebstahl des Maibaums.

Wesentliches Kennzeichen des rituellen Diebstahls ist, dass das zu stehlende Objekt (zumindest ursprünglich, bevor es zum bloßen Schabernack ausartete) selbst ritueller Natur ist. Kraft- und Ritualobjekte z.B. eines Schamanen können so „legitim" auf drei Arten erworben werden:

  • als Gabe der Geister: Das Objekt wird in der Natur gefunden oder man erhält es von einem Menschen als Geschenk.
  • Man baut das Kraftobjekt selbst. Z.B. die Trommel, Rassel, den magischen Stab usw.
  • Erhält man aber lange kein solches Geschenk und ist selbst nicht fähig, das Objekt durch eigener Hände Arbeit zu bauen, so ist der rituelle Diebstahl legitim.

Das Kaufen eines Kraftobjektes gilt dagegen in vielen Kulturen als verpönt, weil dies dem Kraftobjekt die Kraft entziehe.
Der rituelle Diebstahl folgt jedoch stets strengen Regeln! Nur innerhalb dieser in der Gemeinschaft geltenden regeln ist der rituelle Diebstahl legitim. Der Maibaum darf z.B. nicht im Wald gestohlen werden, sondern muss sich innerhalb der Dorfgrenzen befinden. Er darf nicht mit Gewalt entwendet werden, hat ein Hüter seine Hand am Baum, so darf er nicht entwendet werden usw.
Eine Variation des rituellen Diebstahls stellt der „Brautraub" dar. (In der Mythologie z.B. Hades, der Persephone entführt). Dabei wird die Braut vor oder kurz nach der Eheschließung entführt und versteckt. Wird sie gefunden, muss sie ausgelöst werden.

Die Idee hinter dem rituellen Diebstahl ist, dass sakrale Objekte nicht wirklich Dir gehören, wie gewöhnlicher Alltagsbesitz. Sie werden Dir von höheren Mächten gegeben, dazu ist oft ein Energieeinsatz notwendig. Das Ersinnen der List, das Anschleichen, den rechten Zeitpunkt abzuwarten, etc. gilt als ein solcher Energieeinsatz, der die legitime Aneignung erlaubt. Oder anders gesagt: „Wenn die Götter und Geister es zulassen, dass Du das Objekt entwendest, gilt dies wie ein Geschenk". Zudem findet – entsprechend den Kulturheroen – der rituelle Diebstahl sozusagen außerhalb der gewöhnlichen Ordnung, in einer Art „Traumzeit", statt, also symbolisch-mythologisch gesehen, „bevor" es entsprechende Gesetze gegen den Diebstahl gab. Deshalb auch die genannten Zeiträume, die als Nichtzeit sozusagen aus der Alltagsordnung fallen.

Auch die Kirche frönte dem rituellen Reliquien-Diebstahl. So soll u.a. Briccius, ein dänischer Prinz, eine Viole des Heiligen Bluts Christi um 914 in Konstantinopel gestohlen und bis Heiligenblut am Großglockner gebracht haben.

Der „heilige Diebstahl" wurde von den Griechen mit dem Verb syláô (griech. Συλάω), bzw. Substantiv hê sýlê (griech. ἡ σύλη) bezeichnet. Um nun besonders wichtige sakrale Objekte definitiv vor Entwendung zu schützen, schuf man besondere heilige Schutzzonen, die a-sylos ἄσυλον ‚unberaubt', ‚sicher' waren. Hier war selbst der rituelle Diebstahl verboten und es leitet sich unser Wort Asyl davon ab.

So ist der rituelle Diebstahl bis heute ein vor allem in der dualistischen Weltsicht schwer zu begreifender legitimer sakraler Akt. Wir sollten nicht vergessen, dass der griechische Gott Hermes eine ebensolche Tricksterfigur darstellt. Er war nicht nur Gott der Magier und Zwischenweltenwanderer, sondern auch der Diebe!

Bild © Stefan Brönnle

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